1. Schicksal – woher und wohin?

1. Schicksal – woher und wohin?

Wer vom Schicksal spricht, versucht den roten Faden im Puzzle seines Lebens zu finden. Dieses
tastende Suchen folgt Erklärungen wie «Weil…dann…darum…» und «Es musste so kommen, weil…».
Oder es werden höhere Mächte angenommen, die den Lebensverlauf vorausgeplant haben, den wir
erfüllen müssen. Beim weiteren Nachdenken kommen wir dazu, uns nicht als einzelne autonome
Wesen zusehen, sondern als Menschen, die über das familiäre Erbgut vieles mitbringen, was
Gelingen und Scheitern in unserem Leben beeinflusst. Damit ist vieles im Leben vorgespurt. Dann ist
Familie und familiäres Erbgut Schicksal.

Im Verlaufe vieler Generationen wurden in der Familie von den einzelnen Familienmitgliedern immer
wieder Varianten der bestmöglichen Lebensart ausprobiert. Gescheiterte, misslungene oder
gelungene Lebensentwürfe, stehen uns zur Auswahl. Diese gespeicherten Existenzmöglichkeiten
(Szondi 1987,27) sind Inhalte der unbewussten familiären Cloud, die alle Erfahrungen unserer Ahnen
aufnimmt. Einige dieser Existenzmöglichkeiten sind genetisch dominant, andere sind eher latent im
Hintergrund. Szondi nimmt ferner an, dass Gengruppen über Generationen hinweg Krankheiten,
Fähigkeiten, Verhaltensweisen und soziale Kompetenz speichern und als relativ stabile Erbmasse
weitertragen.

Diese Sammlung genetisch fixierter Eigenschaften könnte man den genetischen «Habitus»* (nach
Bourdieu) der Familie nennen. Allerdings stellt sich da die Frage, wieweit wir unser Schicksal
angesichts dieser familiären Erbmasse überhaupt beeinflussen und selbstbewusst gestalten können.
Daran anknüpfend die Zusatzfrage: Wie können wir aus der inhaltlichen Fülle der Cloud das Beste für
uns aktiv werden lassen? Vieles entscheiden wir im Leben intuitiv**.
Intuitiv ist unser unbewusster Zugriff auf das reichhaltige familiäre Erbe. Intuition ist übersinnliches
Wahrnehmen von Wissen und Erfahrungen, die in der familiären Cloud gespeichert sind. Schicksal ist
ein Hin und Her zwischen dem von der genetischen Disposition verfügbaren Sortiment des familiären
Habitus (nach Szondi: Zwangswahl) und der intuitiv selbstgewählten individuellen Lebensart. Was
bedeutet dies für das Leben? Angepasst an den vorgegebenen Habitus leben ist bequem, mitunter
zwanghaft und mit Sehnsucht nach Freiheit im Hintergrund verbunden. Selbstgewählt leben ist
anstrengend, fordernd, manchmal chaotisch aber erfrischend und hintergründig mit einem Sehnen
nach Ordnung und Sicherheit verknüpft. Beide Lebensformen existieren kaum in reiner Form,
sondern zeigen sich in unzähligen Mischformen. Schicksal ist ein Prozess, in dem Lernen, soziale
Erfahrung, gesellschaftlicher Zwang und epigenetische Einflüsse ständig an der Schicksalsform
arbeiten. Schicksal ist kein Zustand sondern ein Prozess bis zum Tod.

*Der Habitus ist nach Pierre Bourdieu der «Erzeugungsmodus der Praxisformen, d.h. die sozialen
Akteure sind mit systematisch strukturierten Anlagen ausgestattet, die für ihre Praxis [der
Lebensführung] konstitutiv sind. (…) Der Habitus gewährleistet die aktive und unbewusste Präsenz
früherer Erfahrungen und setzt sich zusammen aus Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata,
die bestimmen, wie ein Akteur seine Umwelt sensuell wahrnimmt, welche Alltagstheorien,
Klassifikationsmuster, ethischen Normen und ästhetischen Massstäbe er vertritt und welche
individuellen und kollektiven Praktiken der Akteur hervorbringt.»
(Ergänzung in eckigen Klammern von Alois Altenweger)

Barbara Stollberg-Rilinger, Universität Münster, 2003

**Die Analytische Psychotherapeutin Monika Rafalski hat die Wirkungsweise der Intuition wie folgt
beschrieben: «Die Inhalte der Intuition werden dem Ich als Eingebung, Ahnung, Idee, Einfall, als
plötzlich vorhandene Einsicht bewusst. (…) Entsprechend der Grenzenlosigkeit des Unbewussten ist
die Intuition nicht an die Kategorien von Raum und Zeit gebunden, sie ist vom freien Fliessen des
Unbewussten bestimmt. Daher erahnt sie nicht nur die latenten Potentiale der Gegenwart sowie die
nicht realisierten der Vergangenheit, sondern auch die zukünftigen Möglichkeiten» (Rafalski
2018,53f.).