Es nimmt kein Ende! Serialität droht uns

Es nimmt kein Ende! Serialität droht uns

Es nimmt kein Ende! Serialität als neues Paradigma

Fr / Sa 8.-9. November 2013

Interdisziplinäre Tagung des Netzwerks Entresol, des Psychoanalytischen Seminars Zürich und der
Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

Abstracts und Referent/innen

Die Serie als Triebtäter

Olaf Knellessen

In den Serien der Kunst und der Literatur wird vorgeführt, wie Alltägliches und zunächst
Unbedeutendes an Gewicht und an Fahrt gewinnen kann. Der Einzelfall erhält durch seine
Serialisierung Intensität und wird mit Phantasien aufgeladen. Dass der Trieb zum Serientäter werden
kann, ist – unter dem Begriff des Wiederholungszwangs – nicht nur in der Psychoanalyse hinlänglich
bekannt. Wie sehr aber die Serie zum Triebtäter wird, ist möglicherweise nicht nur für die
Psychoanalyse überraschend.

OLAF KNELLESSEN Dr. phil., Psychoanalytiker in eigener Praxis in Zürich, Teilnehmer und Dozent am
Psychoanalytischen Seminar Zürich (PSZ), Autor und Herausgeber mehrere Buchpublikationen zu
Theorie und Praxis der Psychoanalyse.

Zwischen ‘Evolution und Serie’: Das Automobil im Zeitalter seiner ästhetischen
Individualisierbarkeit

Gerhard M. Buurman

Sind Artefakte durch Gestaltregeln verbunden entsteht die Serie. Die Serie ist damit reproduzierte
Regel. Ermöglicht wird die serielle Reproduktion der Regeln durch die Anwendung gleichförmiger
Verfahren, die in der Serientechnik eingebettet sind. Die Serientechnik – Maschinen, Apparate und
technischen Einrichtungen – spiegeln ihrerseits Regeln. Serien und Serientechnik folgen dabei höchst
unterschiedlichen Logiken. Die ‘Logik der Serie’ liegt im Grad der maximal erzielbaren
Gleichförmigkeit der Reproduktion. Die ‘Logik der Serientechnik’ liegt im erzielbaren Freiheitsgrad
von Reproduktionsregeln. Die ökonomische Ratio der Serie verkehrt sich angesichts der
ökonomischen Ratio einer sie bedingenden Serientechnik. Die Individualisierung der Serienfertigung
gründet daher zunehmend auf einem Paradoxon: Die Serientechnik braucht die Serie nicht mehr.
Am Beispiel der Automobilindustrie wird Gerhard M. Buurman über einige Wirkungsaspekte dieser
Entwicklung referieren.

GERHARD M. BUURMAN, Leiter des Institutes für Designforschung an der Zürcher Hochschule der
Künste hat verschiedene Berührungspunkte mit der Automobilindustrie –
als Lehrling im Bereich
Giessereimodellbau der BMW AG München, als Student im Bereich Technisches Design der Uni Essen
oder als Doktorand im Bereich Transportation Design der Fordwerke AG Köln. In seiner Arbeit als
Dozent, Designer und Designforscher interessieren ihn die Gesetze der Serie, Regeln und ihre
Freiheitsgrade.

Algorithmus und Mechanik

Daniel Strassberg

Das Bild der Uhrwerks beherrscht die Metaphysik der Neuzeit: Die Welt ist ein Mechanismus
gesetzmässiger und sich unendlich wiederholender Bewegungsabläufe, die von einer externen
immateriellen Instanz gebaut und gesteuert wird. Die psychoanalytische Theorie ist in weiten Teilen
noch mechanistisch.

Unsere digitale Welt wird aber nicht mehr von Mechanismen, sondern von Algorithmen beherrscht.
Algorithmen sind rekursive, sich verzweigende und sich verändernde produktive Serien
mathematischer Funktionen. Seit Algorithmen selbstlernend geworden sind können wir uns nicht
mehr damit trösten, dass sie letztendlich von Menschen programmiert worden sind: Die
Algorithmen haben die Maschinen längst von göttlicher und menschlicher Steuerung befreit.
Vielleicht haben die Algorithmen die Steuerung des Menschen gar übernommen.
Die Algorithmen von Google und Facebook wissen mehr über unser Begehren als wir selbst: Sie
zeigen uns ans was wir schon immer wollten, ohne es zu wissen. Ist das Unbewusste in geniesende
Maschinen verlagert worden?

DANIEL STRASSBERG Dr. med. Dr. phil., Facharzt für Psychiatrie, Psychoanalytiker in eigener Praxis in
Zürich und Philosoph. Ko-Leiter CAS-„Lehrgang in Philosophie für Fachleute aus Medizin und
Psychotherapie“ und Gastdozent an verschiedenen Hochschulinstituten.

Unendliche Analyse, unendliche Verheissung: Annäherungen an die Fernsehserie

Johannes Binotto und Michael Pfister

“Im Kino gibt es immer ein Ende. Ein glückliches oder tragisches. In der Realität hingegen, geht das
Leben einfach weiter” – so sinniert die Hauptfigur der Fernsehserie PEYTON PLACE aus den frühen
sechziger Jahren und bringt damit bereits das damals noch blutjunge Genre der Fernsehserie auf den
Punkt: Im Gegensatz zu Erzählungen, die auf ein Ende hin konzipiert sind, stellt die Fernsehserie
solche Teleologie in Frage. Unendlichkeit statt Totalität, Wiederholungszwang statt lineare
Entwicklung, ewige Repetition des Gleichen und Ungleichen, unablässiger Durchgang durch die
Vergeblichkeit allen Tuns und den unauffüllbaren Mangel des menschlichen Subjekts. Die
Fernsehserie konfrontiert ihre Zuschauer mit alten Fragen etwa von Schuld und (fehlender)
Vergebung, von Todesangst und Todessehnsucht. Anhand von PEYTON PLACE, MIAMI VICE und THE
SOPRANOS – drei Beispielen, die auch verschiedene historische Stationen des Genres abstecken –
wollen wir im Dialog einigen dieser grundlegenden Fragen nachgehen, die uns die Fernsehserie stellt.

JOHANNES BINOTTO Dr. phil., Kultur-und Filmwissenschaftler, lehrt am Englischen Seminar der
Universität Zürich, publiziert und lehrt zu Film, u.a. an der Psychiatrischen Universität Zürich/Lacan Seminar.

MICHAEL PFISTER Dr. phil., Philosoph und Literaturwissenschaftler, Gymasiallehrer für Philosophie
und Deutsch in Zürich, Ko-Leiter des „Lehrgang in Philosophie für Fachleute aus Medizin und
Psychotherapie“, schreibt für verschiede Publikationen über Film und andere kulturelle Themen.
Technik Oktober 2012 008

Technik Oktober 2012 008Experimentelle Serialität

Hans-Jörg Rheinberger

In meinem Beitrag wird es darum gehen, die Verkettungen aufzuzeigen, die Experimentalsysteme in
den Wissenschaften auszeichnen. Was zeichnet ihre Temporalität aus? Lassen sich Verbindungen zu den Aufeinanderfolgen in der Kunst ziehen, die George Kubler unter den Begriffen „serial position“,
„extended series“, „wandering series“ und „simultaneous series“ diskutiert?

HANS-JÖRG RHEINBERGER Prof. Dr. rer. nat., Honorarprofessor und Direktor des Max Planck Instituts
für Wissenschaftsgeschichte, hat sich mit seinem Konzept des epistemischen Dings, das das Verhältnis
von Dingen und Wissen beschreibt, weltweit einen Namen gemacht, Autor zahlreicher Bücher und
Essays.

Methoden des Aufdeckens latenter psychischer Tatsachen mithilfe von Serialität

Henriette Haas

Niemand kann in die Psyche anderer Menschen hineinsehen, wir sehen einzig und alleine die
Korrelate der psychischen Prozesse. In vielen Bereichen des Lebens, z.B. für die Therapie oder für die
Rechtssprechung ist es jedoch nötig, fremd-psychische Tatsachen zu eruieren oder gar zu beweisen.
Wie geht man dabei vor? Das kulturell wichtigste Korrelat psychischer Prozesse sind die Aussagen,
die eine Person über ihre innerpsychischen Prozesse macht. Diese Angaben sind jedoch nicht immer
richtig. Sie können einerseits erfunden sein, sie können illusionär verzerrt sein oder sie können durch
einen Widerstand gegen unbewusste Inhalte (im psychoanalytischen Sinn) zustande kommen. Die
Serialität ist nun ein möglicher Weg, wie man gewisse fremd-psychische Tatsachen nachweisen kann.
Serialität verweist auf Motive und überdauernde Persönlichkeitseigenschaften, sie indiziert die
Stabilität und Existenz dessen, was wir Psyche nennen. Anhand zweier Beispiele, eines aus der
Therapie eines Jugendlichen und ein anderes aus dem Strafrecht werden wir Methoden des
Erfassens latenter psychischer Inhalte durch Serialität vorstellen und diskutieren.

HENRIETTE HAAS, Prof. Dr. phil., ausserordentliche Professorin am Kompetenzzentrum für Forensik
und Wirtschaftskriminalität der Universität Luzern und am Psychologischen Institut der Universität
Zürich.

Serialität/Einzelheit oder Überschuss/Einzigkeit im Wiederholungszwang?

Monique David-Ménard

Inwieweit regelt die Logik der Serialität, nicht nur die Triebverschiebungen und die
Objektersetzungen des Begehrens, sondern auch die Verknüpfungen zwischen Begehren und
gesellschaftlichem Verkehr? Die Übertragung in der psychoanalytischen Praxis, aber manchmal
(durchaus?) auch kulturelle Angebote eröffnen dem Überschuss im Begehren neue Wege:
Vergänglichkeit, Trennung, Trauer, die sich alle im Feld des Wiederholungszwangs entwickeln,
werden vielleicht auch durch den Kontrapunkt des Exzesses und der Einzigkeit (nicht der Einzelheit)
organisiert. Wie verhalten sich die seriellen Dinge, die unsere Gesellschaft (Kultur) verfügbar macht,
zu diesen möglichen Veränderungen? Sind sie Hindernisse oder Gelegenheiten?

MONIQUE DAVID-MENARD, Prof. Dr., Philosophin und Psychoanalytikerin, Direktorin des Centre des
études du vivant an der Université Denis Diderot, Paris VII, das sich mit den Grenzbereichen von
Epistemologie, Lebenswissenschaften und Psychoanalyse beschäftigt.

Halboriginal .Meine 1000-seitige Aquarell-Serie

Thomas Müllenbach

Siebe Jahre lang habe ich die mir zugeschickten Flyers von Ausstellungen in gleicher Grösse in
Aquarell umgesetzt (vom Original zum Druck zu meinem Original). Die Serie wurde dieses Jahr
abgeschlossen und ist in Teilen schon mehrmals ausgestellt worden. Vortag über die Serie.

THOMAS MÜLLENBACH, Prof., freier Künstler und „mittels Malerei und Zeichnung Spezialist für
Normalität in all ihren Facetten“, lehrt in Vertiefung Bildende Kunst an der Zürcher Hochschule der
Künste (ZHdK).

Das Falten musikalischer Zeit

Sebastian Wedler

So sehr die Falt-Phänomenologien Bachs, evidentermaßen, nicht denen Mozarts nicht denen
Ferneyhoughs entsprechen, so wenig ist die Varietät phänomenologischer Ausfällungen im Einzelnen,

d.h. der musikontologische Faltanankasmus abzuziehen möglich vom Produktionsgrund der Dinge.
Studieren wir die Werke der genannten Komponisten (und diese Liste ist keineswegs abschließend),
so schauen wir ästhetischen Subjekten bei der Arbeit zu, die leere Gewalt des eigenen, auf Dauer
gestellten ontologischen Mangels im materiell-produktiven Sich-Entfalten zu über-falten: die
Bewegung des Faltens ist paradoxerweise initiiert, um diese zu stoppen. Um die selbstreflexive
Fakultät der Dinge auf ihr Faltenwesen hin ins Blickfeld zu bekommen, wird der Vortrag eine
spekulativ-kontemplative Theorie des ödipalen und anödipalen Dings vorstellen. Diese mit Thesen
abzustecken und, im Zuge dessen, mit den gegenwärtigen Diskursen zur Ontologie der Gewalt,
sexuellen Differenz und Frage nach der Humanität der Dinge zu verknüpfen, ist Ziel des Vortrags.
SEBASTIAN WEDER, lic. phil., studierte Musikwissenschaften, Recht und Psychologie an der
Universität Zürich, doktoriert derzeit in Musikwissenschaft an der Oxford University.

Radio made the DJ star! oder: Was hat der Untergang der Titanic mit der Geburt der Radio Serials
und beides mit Bob Dylan zu tun?

Giaco Schiesser

1912 ging die Titanic unter, im selben Jahr erliess die US-Regierung den Radio Act. Um 1920 war die
Geburtsstunde des DJ, 1926 wurden die ersten Radio Serials ausgestrahlt, 1935 die erste Hitparade.
2006 bis 2009 erfand Bob Dylan den DJ neu, 2012 veröffentlichte er einen dreizehnminütigen Song
mit dem Titel Tempest auf seiner bisher letzten, gleichnamigen CD. Der Sänger schildert ein einziges
Ereignis – den Untergang der Titanic.
Der Vortrag handelt davon, warum und wie das alles miteinander verknüpft und verwoben ist. Oder

davon, warum „das Vergangene nicht tot, nichteinmal vergangen ist“.

GIACO SCHIESSER, Professor für Kultur-und Medientheorien und Direktor des Departements Kunst &
Medien an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK); Gastprofessor für künstlerische und
wissenschaftliche Promotion an der Kunstuniversität Linz und Mitglied des Executive Board der
Society for Artstic Research (SAR). Arbeits-und Publikationsfelder: Kultur-, Medien-, Subjekttheorie |
Epistemologie, Ästhetik, Kunst Forschung | Demokratie, Öffentlichkeiten, Alltagskultur.

Serie, Ornament und Zerstörung in Michael Müllers K4

Reimut Reiche

Der Künstler Michael Müller hat mit einer geheimnisvoll anmutenden Zeichenschrift Robert Musils
Roman Der Mann ohne Eigenschaften ins endgültig Unlesbare gebracht. Der von ihm für diese
Transformation erfundenen und nur für diesen Roman verwendeten Schrift hat er den Namen K4
gegeben. Ein einzelnes Zeichen steht in der Regel für vier aufeinanderfolgende lateinische
Buchstaben des Romans. Vereinfacht, beginnend mit dem Titel des Romans: ein Zeichen für DERM,
dann das nächste Zeichen für ANNO, dann das nächste für HNEE. Sobald das Zeichen für DERM
feststeht, muss es wiederverwendet werden, wenn es in der Buchstabenfolge des Romans
wiederkehrt. Die algorithmisch festgelegte Zerteilung oder Zerstückelung der gesamten Vorlage ist
hier konstitutiv für die Entstehung des neuen Werks. Michael Müller arbeitet, mit Unterbrechungen,
seit über 20 Jahren an dieser Übersetzung. Die inzwischen übersetzten Kapitel des Romans umfassen
bis jetzt ungefähr 400.000 unterschiedliche Zeichen. Die Zeichenfolge erscheint mit Bleistift der
Stärke HB auf Blättern, jeweils 30 x 29 cm, jedes gerahmt in einem schmalen weißen Rahmen. Einige
von ihnen wurden 2013 in der Galerie Thomas Schulte in Berlin ausgestellt. Einige –
denn die Serie der Übersetzung-im-Rahmen sprengt heute schon jeden Rahmen. Diese Übersetzung, oder besser:
Transformation, provoziert viele Fragen zum Übergang von der Schrift zum Bild, zur Wiederholung
und zum Wiederholungszwang, zur Serie, zum Ornament, zur Zerstörung des Alten und der
Entstehung des Neuen.

REIMUT REICHE PD Dr. phil., Psychoanalytiker und Sexualforscher in Berlin, habilitierter Soziologe,
Autor mehrerer Bücher zum Thema.

Furious Modeling: Revolution, Science and the Poetics of Seriality in China’s Modernization *

Andrea Riemenschnitter

In his novel Frogs Mo Yan revisits China’s modernization from the perspective of an ongoing
production of inhuman serial realities. From Mao to the Deng regime and thereafter, the classification
of the population into abject old and viable new subjectivities was at the center of the state’s
disciplinary interventions. A pivotal role is ascribed to the transactions that were set in motion with
the one-child policy. Suggesting the recent, science-based CCP rulership to be a regime of cosmic uncreation,
the novel focuses on the destructive ecological consequences of serial planning.

ANDREA RIEMENSCHNITTER Prof. Dr., Sinologin/Ordentliche Professorin für moderne chinesische
Sprache und Literatur am Asien-Orient-Institut der Universität Zürich.

* der Vortrag ist in deutscher Sprache