02 Aug Triebsystem: dessen Axiome
Erstes Axiom: Lebenserhaltung und Lebensvernichtung: Was bei Sigmund Freud der Lebens- und der Todestrieb sind, ist bei Szondi der Sexualtrieb (Erosfaktor), der alle Spielarten von Liebe und Lebensfortpflanzung und Einbettung in eine umfassende Humanität in sich trägt; aber auch alle Formen von kühler Destruktivität bis zur blindwütigen Aggression und Selbstvernichtung beinhaltet (Thanatosfaktor).
Zweites Axiom: Vererbung: Aufgrund der von Individuum zu Individuum sich zeigenden Wiederholung von immer gleichen Triebbedürfnissen in Form von menschlichem Verhalten, wird postuliert, dass die Triebstrukturen vererbbar sind. Da Vererbung über die Gene erfolgt, wird daraus geschlossen, dass die Triebe bzw. die Triebbedürfnisse erblich sind.
Drittes Axiom: Modulation: Triebbedürfnisse sind anpassungsfähig, veränderlich und modulierbar. Ihre vererbten Befriedigungsmodi sind wandelbar und passen sich an Umwelt, familiäre Lebensart, vererbtes Verhalten, die Ich-Steuerung, existenzielle Notwendigkeiten und die kommunizierten Bedürfnisse anderer Menschen an. Ein wesentliches Modulationsinstrument sind epigenetische Einwirkungen auf Genfunktionen.
«Was sich auf der Drehbühne der Seele primordial wandelt, ist Wunschbewusstsein und die Stellungnahme des Ichs, welches einmal aus dieser, ein andermal aus jener Triebquelle schöpft, um diese oder jene Ansprüche im Vordergrund des Seins ausleben zu können. Während aber die eine Gruppe von Triebenergien die besonderen Szenen im Vordergrund der seelischen Drehbühne nährt, bleibt die andere Gruppe von Triebenergien im Hintergrund, d.h. in Reserve, bis dann das sich wandelnde Ich die Bühne wieder umdreht [beispielsweise durch therapeutische Einflüsse, traumatische Ereignisse, Krankheit oder bewusste Stellungnahme des Ichs wie es z.B. allen Verzichthandlungen zu Grunde liegt] und neue Energiequellen für sein aktuelles Sein erschliesst. (…) Die mannigfaltigen Wandlungen des Ichs, bedingt durch Geschlecht und Alter, Umwelt und Lebensweise, persönliche und allgemeine Schicksale usw., verändern auch das Erscheinungsbild eines jeden Triebfaktors [Triebbedürfnisses].» (Szondi, Triebdiagnostik, S.68)
Viertes Axiom: Energieprozesse: Die Triebbedürfnisse organisieren ihre Wirksamkeit mittels polarer Energiefelder, als Energiecluster, wobei diese zwischen zwei Polen von wechselnder Stärke oszillieren. Triebbedürfnisse konstituieren sich über ihr Energiefeld. Triebbedürfnisse verschiedener Triebe handeln in der Regel nicht alleine, sondern vernetzen sich durch emergente Prozesse und das Bündeln von Energie.
«Die Spannung der Triebe, der Drang der Triebe: Sie [die Spannung] kommt eben durch die Polarität der Strebungen und Bedürfnisse zustande. Sie erscheint als Triebdrang, dessen Grösse von der Grösse der Gegensätzlichkeit [dem Energiepotential des Feldes, der – elektrotechnisch ausgedrückt – Feldspannung] derjenigen Triebgene abhängt, die ein Bedürfnis bzw. einen Trieb erbgemäss gemeinsam bedingen. Die Spannung der Triebe sichert das Dynamische in allen triebhaften Handlungen.» (Szondi, Triebdiagnostik, S. 33)
Fünftes Axiom: Komplementarität: Das Leben des Einzelnen (Szondi, Freiheit und Zwang im Schicksal des Einzelnen, S. 78) beruht auf einer Gegensatzstruktur. Der Gegensatz zeigt sich in den jeweils zwei Strebungen [Gegenpole] der Bedürfnisse, die sich komplementär ergänzen. Wesentlich ist, dass psychische Gesundheit durch die Integration, «die Ergänzung der Gegensätzlichkeiten zu einer Ganzheit (ebenda, S. 78)» aufrechterhalten bleibt. «Wird die Komplementaritätstendenz zwischen den Gegenpolen unterbrochen oder gestört, dann gerät die Einzelperson wie die Menschheit in eine Katastrophengefahr.» (ebenda, S. 79)
Sechstes Axiom: permanenten Aktivität: Triebe bzw. Triebbedürfnissen sind immer in Bewegung. Sie wollen sich verwirklichen und arbeiten unentwegt daran, ihre Energien in Handlungen, Verhaltensmodi und Äusserungen umzusetzen. Sie haben den «Auftrag» sich zu realisieren. Triebbedürfnisse die «festgefahren» sind, bedeuten Fixierung und im schlimmsten Falle chronifizierte Krankheit.
Eine Gefahr: Die Bedürfnisbefriedigung kann durch das ständige Triebdrängen zur Suchtwerden, wenn nicht über das Ich Ausgleichsmodi gefunden werden. Aufgrund des Triebdrängens strebt der Mensch danach, den Radius seiner Bedürfnisbefriedigung ständig auszudehnen.
Eine Therapie soll den Menschen von der Verzettelung zum Wesentlichen, von der Bedürfnisausweitung zurück zur Bedarfsdeckung führen.